Birgit Treckeler

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Klappentext: Das Echo deiner Worte

Das ruhige Leben des charismatischen Psychotherapeuten Ryan von Streelitz wird durch einen furchtbaren Schicksalsschlag jäh erschüttert. Kann die exzentrische Malerin Christine — ausgerechnet eine Patientin — wieder Freude in sein Leben bringen? Oder ist es am Ende doch Ryans Kollegin, die junge Psychologin Larissa, die sein verwirrtes und verletztes Herz erobert?
Aber was würde dann aus ihren Plänen nach Schweden auszuwandern?

In diesem Roman wird von all den konfusen, ambivalenten und zutiefst menschlichen Emotionen erzählt, vor denen natürlich auch die Experten in Sachen Seele nicht gefeit sind.

Leseprobe: Das Echo Deiner Worte

1. Kapitel Ryan

Das große Fenster im Büro ist geöffnet. Endlich fallen die ersten warmen Sonnenstrahlen seit Wochen ins Zimmer und kündigen den späten Sommerbeginn an. Ryan von Streelitz sitzt an seinem schweren, aus dunklem Holz gefertigten Schreibtisch und starrt schon seit einer Weile ins Leere. Er genießt den gedankenfreien Kopf und die Stille um sich herum. Aber nicht sehr lange.
So spürt er bereits Larissas Präsenz, bevor sie das Haus betritt und die ersten Stufen nimmt. Morgens erreicht sie immer zur selben Zeit, meist auf die Minute genau, das Treppenhaus. Es ist 8.30 Uhr. Er meint zu hören, wie sie in diesem Moment über das holprige Kopfsteinpflaster stöckelt, das vom Hof zur Haustür führt.
Die junge Frau ist Wirtschaftspsychologin und Businesscoach und zurzeit seine Praxiskollegin. Larissa — für Ryan ist sie eine Mixtur aus grellen Farben, enervierend lauten High Heels und einem kühlen Lächeln. Vor zwei Jahren hat sie sich in seine psychotherapeutische Praxis eingemietet und seit dieser Zeit führen sie dieselbe Adresse auf ihren Visitenkarten. Larissa besitzt einen messerscharfen Verstand, eine Affinität zu Zahlen und ein Faible für schnelle, pragmatische Lösungen. Ihr intensives Parfum umgibt sie ständig wie eine schwere Wolke, die Ryan oft Kopfschmerzen bereitet.
Bislang hat er wenig Sympathie für seine Kollegin aufbringen können. Er schafft es nicht, ihr auf einer anderen als der Sachebene zu begegnen. Meistens gehen sie sich aus dem Weg, nur selten sitzen sie bei einem Kaffee zusammen, und ihr Austausch beschränkt sich auf Höflichkeiten. Vieles an Larissa erscheint Ryan übertrieben geschäftsmäßig, kommt ihm künstlich vor. Und so spürt er auch jetzt wieder den mittlerweile vertrauten Widerwillen gegen ihre Anwesenheit in der gemeinsamen Praxis, so als dränge sie in sein zutiefst privates Reich ein — obwohl sie sein Büro, das gegenüber der kleinen Praxisküche liegt, tatsächlich noch nie betreten hat. Glücklicherweise zieht sie seit Anfang dieses Jahres immer häufiger Aufträge an Land, die sie in die Chefetagen namhafter Firmen bringen, sodass sie manchmal für mehrere Tage unterwegs und daher angenehm abwesend ist. Er freut sich dann über die Ruhe und darüber, seine Praxis in dieser Zeit wieder für sich alleine zu haben. Aber auch wenn er es sich anders wünschen würde: Es gibt es zurzeit keine Alternative. Er ist auf ihre Miete und ihr Zahlentalent angewiesen.


Ryan hört ihre lauten Schritte im Treppenhaus und weiß, dass ihm weniger als eine Minute bleiben wird, bis sie den Flur betritt. Ihr schwerer Schlüsselbund wird gegen die Holztür schlagen und er wird sich erneut fragen, warum sie so entschlossen ist, mit ihren hohen Absätzen nicht nur seine Nerven, sondern auch den kostbaren Holzboden zu ruinieren. Er seufzt. Wenn er eine Begegnung mit ihr vermeiden möchte, wird er wohl auf die erste Tasse Kaffee verzichten müssen. Er bleibt an seinem Schreibtisch sitzen und verschiebt mit Bedauern den Genuss des geschätzten Heißgetränks auf später.
Von Streelitz lehnt sich weit in seinem komfortablen Chefsessel zurück. Wippt langsam auf und ab, schaut den Staubkörnern zu, die in den Sonnenstrahlen tanzen. Mehr aus Vorfreude auf die kommenden lauen Sommertage als durch Wärme motiviert, öffnet er die Manschetten seines dezent gestreiften Hemdes, krempelt die Ärmel hoch und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Er blickt dem Licht entgegen, das durch die Bürofenster flutet, und genießt die Vorboten des nahenden Sommers. Seine Stimmung hebt sich spürbar: Dieser Moment fühlt sich endlich mal wieder wie ein Versprechen auf das Leben an. Er spürt, wie Hoffnung in ihm erwacht.
Das geräuschvolle Rücken von Stühlen im Raum nebenan, das Schleifen von Stuhlbeinen über den Dielenboden reißt ihn jedoch wieder aus seinen Gedanken. Larissa schiebt offensichtlich Sitzmöbel für ihre nächsten Klienten zurecht — und zwar mit gnadenloser Pedanterie, wie ihm scheint. Gleich ist es neun Uhr, auch sein erster Patient wird jeden Moment erscheinen. Von Streelitz reißt sich zusammen, lenkt jetzt seine Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Akte von Simon Wedekint.


Und wie aufs Stichwort ertönt auch schon die Klingel. Ryan seufzt ergeben und geht zur Praxistür, um seinem Patienten zu öffnen. Simon Wedekint, ein großer, schlanker Mann Ende vierzig, steht vor ihm — wie stets in leicht gebeugter Haltung. Höflich lächelnd gibt Ryan ihm zur Begrüßung die Hand. »Guten Morgen, Herr Wedekint, kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.« Er lässt ihm den Vortritt ins Sprechzimmer.
Der Studienrat steuert einen der vier bequemen Ledersessel an, die um einen kleinen Tisch herum angeordnet sind, und Ryan setzt sich ihm gegenüber. Er wartet geduldig, bis sein Patient zu sprechen beginnt. In den vergangenen Sitzungen drehte sich dessen Geschichte zuverlässig im Kreis, die Schilderungen der Probleme und Situationen wiederholten sich, und auch heute, das erkennt Ryan mit einem Blick, spricht Wedekints Gesicht nur von Niedergeschlagenheit, sogar von Verzweiflung. Derzeit muss er als Therapeut die Stagnation in der Therapie akzeptieren. Fortschritte erzielen sie in diesen Wochen kaum.
Überraschenderweise beginnt Wedekint jedoch ohne den üblichen Smalltalk, mit dem er sonst in die Stunde findet — Erzählungen von seinen Schülern, von der Mühe, die er mit ihnen hat, Klagen über ihren niedrigen Leistungsstand, wie sehr ihm seine Kollegen auf die Nerven gehen. Aber heute legt er direkt los. »Es ist furchtbar, unvorstellbar grausam, sie hat es schon wieder getan. Sie hat ihren neuen Freund in unser Haus eingeladen, während ich im Unterricht war. Sie hatten Sex in unserem Schlafzimmer. Ich halte das nicht mehr aus!« Theatralisch zieht er die letzten Worte auseinander, stützt den Kopf in die Hände und seufzt tief auf.
Ryan lässt ihm Zeit, sich zu sammeln, wartet geduldig.
»Warum, Herr von Streelitz? Warum nur tut sie mir das immer wieder an?«
Darauf wird Ryan ihm keine Antwort geben; er ist der Therapeut, nicht sein Freund. Und seine Erklärungsversuche würden sowieso nicht akzeptiert werden.
»Ich bin wie immer gegen halb drei heimgekommen, habe mir einen Tee in der Küche zubereitet, bevor ich mich ins Arbeitszimmer zurückzog. Plötzlich war da Gelächter im Flur, und als ich in Richtung Treppe schaute, habe ich gedacht, ich sehe nicht richtig: Jasmin in einem offenen und Herrenhemd, barfuß, lachend scherzend mit einem jungen Mann. Wenigstens war der angezogen ...« Wedekint schluckt vernehmlich. »Meine Frau hat mich angesehen, offenbar nur für einen kleinen Moment überrascht, hat kurz )Hi Simon( gesagt und den Kerl dann in aller Seelenruhe zur Haustür gebracht. )Hi Simon(? Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Das ist eine neue Eskalationsstufe. Sie lädt einen Fremden in mein Haus ein, hat Sex mit ihm in unserem Bett, und er ist sogar noch da, als ich nach Hause komme. Ich fasse es nicht!« Wieder stützt er den Kopf in die Hände, die Ellbogen auf die Knie — ein Bild des Jammers.
Dieser eigentlich so kluge Mann landet bald in einer chronischen Depression ..., wenn er doch nur Antidepressiva nehmen würde. Ryans stumme Analyse spult sich automatisch in seinem Kopf ab. »Was ging Ihnen denn in der Situation durch den Kopf? Erinnern Sie sich an Ihre Gefühle in diesem Moment, Herr Wedekint?« Die immer gleiche Therapeutenfrage.
Für einen kurzen Moment wird der Patient laut. »Was ich gefühlt habe? Eine Mordswut fühlte ich. Und gleichzeitig war ich erstarrt, wie eingefroren.« Dann spricht er wieder leiser und langsamer. »Es war, als ob ich neben mir stünde. Wie ein Film, der vor mir abläuft.«
»Haben Sie später etwas unternommen? Mit ihr geredet? Haben Sie sie gefragt, was das soll? Sie hatten sich doch vorgenommen, sie in einer solchen Situation direkt auf ihr Verhalten anzusprechen und dazu zu bringen, mit Ihnen zu reden, erinnern Sie sich?«
»Ja, das hatte ich wohl vor. Ich konnte aber nicht. Ich habe sie noch gefragt, wer das denn gewesen sei, und sie hatte die Stirn, mir lapidar zu erklären, dass es sich um einen Bekannten gehandelt habe, dem sie etwas zeigen wollte. Dann ist sie wieder nach oben und unter die Dusche gegangen. Dr. von Streelitz, wieso ist sie so zu mir?«
Ryan möchte den Studienrat am liebsten schütteln. Es ist doch völlig egal, warum sie so ist. Die bedeutend wichtigere Frage hier wäre doch: 'Warum lässt du dir das gefallen, du Idiot?( Er reißt sich zusammen und gibt seinem Patienten ein wenig Zeit, bevor er erneut ansetzt. »Ist an dem Abend denn sonst noch etwas passiert? Eine Aussprache? Gab es Erklärungen?«
»Nein. Jasmin hat später den Fernseher im Wohnzimmer eingeschaltet, ich saß wieder am Schreibtisch und habe die Aufgaben der 9b korrigiert. Später bin ich zum Abendessen in die Küche zurück. Meine Frau hat den Salat zubereitet und den Tisch gedeckt und mich tatsächlich nach meinem Tag gefragt. Erfreut darüber, dass sie mich überhaupt wahrgenommen hat, verzichtete ich auf weitere Anspielungen. Und ich hatte Angst davor, dass sie mir wieder eines ihrer Ultimaten stellen würde. Ich habe also kaum etwas gesagt. Meine Entgegnungen interessieren sie ohnehin nicht.«
»Woher wissen Sie, dass sie sich nicht für Ihre Angelegenheiten interessiert? Hat sie Ihnen das gesagt?« »Ja, sie sagt mir ständig, ich soll sie mit dem langweiligen Thema Schule in Ruhe lassen.«
»Herr Wedekint, Sie werden, wenn Sie weiter in der Vermeidung verharren und wenn Sie zu Hause nicht die Fragen stellen, die Sie hier stellen, keine Antworten bekommen. Ich kenne Ihre Frau nicht, ich kann lediglich Vermutungen über ihre Motive anstellen. Ohne Konfrontation werden Sie jedenfalls nicht weiterkommen. Und die Kernfrage ist: Was hält Sie eigentlich in dieser Beziehung?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten.« Wedekint verschränkt die Arme fest vor der Brust. Sackgasse. »Okay. Wenn Sie die relevanten Fragen nicht stellen wollen, was können Sie sich denn stattdessen vorstellen? Um einen Schritt voranzukommen?«
»Ich sagte es doch schon! Ich habe keine Ahnung! Meine Ehe macht mich fertig. Die Angst davor, Jasmin zu verlieren, lähmt mich total. Ich stelle es mir immer vor: Eines Tages werde ich aus der Schule heimkehren, und sie wird nicht mehr da sein. Das wäre die allergrößte Katastrophe. Dann denke ich ... ich ... dann soll sie lieber fremdgehen.«
»Sie fürchten sich vor der Möglichkeit, dass sie Sie verlässt. Aber warum glauben Sie, dass sie das tun wird? Und ist Ihr gemeinsames Leben wirklich so lebenswert, Herr Wedekint?«
Keine Antwort. Dann: »Jasmin hat es doch schon angedroht. Stelle ich zu viele Fragen, geht sie. Sie braucht ihre Unabhängigkeit, sagt sie. >Wenn du mich wirklich liebst, dann hältst du die Hand geöffnet und greifst nicht zu. Die wahre Liebe kennt keine Käfige und keine Zwänge. Sie atmet die Freiwilligkeit und lebt von der Freiheit( Sie glauben gar nicht, Herr von Streelitz, wie viele dieser Metaphern sie mir im Laufe der Jahre um die Ohren gehauen hat hat, um ihre Fremdgeherei zu rechtfertigen.«


Ryan erinnert sich flüchtig an eine zurückliegende Szene aus seinem Leben, an ähnliche Worte. Er kann den Gedanken allerdings nicht festhalten, geschweige denn einordnen. Der Moment löst kurz ein diffuses Unbehagen in ihm aus. »Herr Wedekint, Sie kennen doch gewiss die alte Therapieweisheit: >Du kannst nur dich selbst verändern, deinen Partner aber nicht. Sobald einer in der Paarkonstellation damit beginnt, andere Verhaltensweisen zu zeigen, wird sich nach und nach das gesamte Beziehungssystem wandeln. Ich kann Ihnen nur Mut machen, das zu versuchen. Lassen Sie uns einmal mit den Möglichkeiten spielen, die Sie haben. Wie könnten Sie reagieren? Welche Bedingungen könnten Sie verändern?«
»Hm, keine Ahnung.« Nächste Sackgasse.
Wedekint zögert nur einen kurzen Moment, atmet dann tief ein, blickt zu Boden. »Also, ich habe mir schon mal vorgestellt, Jasmin aufzulauern, wenn sie wieder allein weggeht.« Er schaut hoch, die Augen sind auf einmal hart, die Stimme auch. »Und wenn ich sie irgendwo mit einem ihrer Kerle erwischen würde, dann würde ich dem Typen so richtig eins auf die Fresse geben, dass es kracht!« Aber schon ist die Scham da und der Lehrer bedauert sichtlich seine Wortwahl.
»Nein, das ist schon in Ordnung, Herr Wedekint. Sie sehen, da ist durchaus noch ein mächtiges Gefühl in Ihnen — nicht nur Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ihre Wut kann Ihnen eine andere Perspektive eröffnen. Selbstverständlich möchte ich Sie an dieser Stelle nicht dazu verleiten, Männer zu verprügeln, aber wir nutzen diese Energie jetzt einmal, um damit zu arbeiten.«
Wedekint atmet erleichtert aus und ringt sich ein Lächeln ab. Für einen Moment fühlt er sich nicht so schwer wie sonst, das hilft. Er rutscht aufgeregt bis zur Sesselkante vor, richtet sich auf. »Ja, ich würde den Kerl niederstrecken und Jasmin von ihm wegzerren, sie am Arm fassen und nach Hause schleifen. Ich würde ihr sagen, dass ich derartige Szenen nicht länger dulden werde. Das würde ich ihr sagen.« Er redet sich in Rage, vergisst glatt, Luft zu holen. Die Sätze sprudeln nur so aus ihm heraus. »Und dann würde ich sie ins Schlafzimmer ...« Wedekint verstummt, erschrocken über seinen Furor.
Ryan unterdrückt ein Schmunzeln. Sieh einer an. Er räuspert sich und wird wieder professionell. »Herr Wedekint, Ihre Wut ist der Schlüssel, um Sie aus Ihrer Lethargie herauszuführen, merken Sie das? Sie wird zuerst Ihre Gedanken verändern, dann werden die Emotionen folgen und schließlich ein anderes Verhalten. Das könnte Ihnen völlig neue Wege eröffnen.« Er macht eine kurze Pause, räuspert sich. »Unsere Zeit ist für heute beendet. Aber ich entlasse Sie mit einem guten Gefühl. Sie haben einen Schritt in Richtung Veränderung gewagt.«
Die beiden Männer stehen auf, und Ryan geleitet seinen Patienten über den Flur und verabschiedet ihn. Dann schließt er erleichtert die Tür hinter Wedekint und geht in das kleine Bad. Dort wäscht er sich — wie immer nach einer Therapiestunde — die Hände, ein Ritual, das er vor vielen Jahren von seinem früheren Vorgesetzten Dr. Primakow übernommen hat. Die wahre Liebe kennt keine Käfige.( Erinnert er sich. Er kehrt ins Sprechzimmer zurück und öffnet das Fenster weit. Der Raum und auch er selbst können frische Luft vertragen. Jetzt mache ich mir aber endlich einen Kaffee. Nebenan sind wieder Larissas laute Schritte nicht zu überhören. Er verzieht gequält das Gesicht und geht in sein Büro. Vielleicht sollte ich ihr ein Paar schicke Pantoffeln für die Arbeit schenken ...
Dann fällt sein Blick auf das Telefon: Das kleine rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkt vielsagend. Ryan spürt die buchstäbliche Faust im Magen und stöhnt enttäuscht auf. Hat er es doch gewusst. Erschöpft lässt er sich in den Schreibtischstuhl fallen.


Vor acht Jahren hatte er die Entscheidung getroffen, sich mit einer eigenen Praxis niederzulassen und künftig als Therapeut zu arbeiten. Er verließ die Hamburger Klinik, in der er vier Jahre als Oberarzt der Psychiatrie tätig war — voller Hingabe und mit großem Respekt seinen Patienten gegenüber. Letztendlich aber verzweifelte er an den profitorientierten Vorgaben des Klinikmanagements —»Effizienz im Gesundheitswesen« nannte sich das. Damit hatte er nicht länger leben wollen — und sich auch nicht länger der Hackordnung auf der Station aussetzen.
Und so hatte er eines Abends nach einer weiteren wortreichen Auseinandersetzung mit dem Chefarzt über die Behandlung einer Patientin endgültig genug und reichte am nächsten Morgen seine Kündigung ein. Das war für ihn ein äußerst befreiender Schritt und durchaus mutig von einem alleinerziehenden Vater einer damals erst fünfjährigen Tochter, deren Mutter in Indien weilte und mit seinen regelmäßigen Unterhaltszahlungen rechnete. Noch am selben Tag, auf dem Heimweg, suchte er einen Immobilienmakler auf, und eine Woche später stellte der ihm eine große Wohnung vor, die sich optimal für die Einrichtung einer therapeutischen Praxis eignete: Sie lag in einem herrlichen weißen Altbau mit hohen Bogenfenstern im noblen Hamburger Stadtteil Rotherbaum. Die Miete wäre astronomisch hoch, doch da er künftig ausschließlich mit Privatpatienten arbeiten wollte, rechnete er nicht mit Problemen. Scheitern kannte Ryan nicht — weder persönlich noch finanziell, denn Erfolg hatte lange wie selbstverständlich zu seinem Leben dazugehört.
Bis zur Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009. Damals verlor er, der äußerst privilegiert aufgewachsen war und sich nie Gedanken über Geld hatte machen müssen, einen großen Teil seines Vermögens — durch Fehlspekulationen und vor allem dadurch, dass er einem alten Freund aus Kindertagen, seinem Vermögensberater — einem Finanzwirt, viele Jahre bei einer namhaften Versicherung beschäftigt und dort in leitender Position für die Fonds und Geldanlagen zuständig — zu sehr vertraut hatte. Pech.


Ryans Handy vibriert. Er schaut auf das Display, seufzt unwillkürlich und denkt: Na, das passt ja —kaum denke ich über Geld nach, schon will Melody, meine kleine Luxusmaus, welches haben. Seine Tochter möchte sich für ihren geplanten Indienurlaub neu einkleiden. Sie ist dreizehn Jahre alt, zurzeit in einer äußerst kratzbürstigen und türenknallenden Phase und auch für einen psychologisch geschulten Vater oft eine Herausforderung. Ehrlicherweise muss er zugeben, dass ihre Beziehung noch nie besonders innig war, und er ahnt, dass er sich früher, als sie kleiner war, mehr Zeit für sie hätte nehmen müssen. Zudem gibt Melody ihm die Schuld am Weggang ihrer Mutter — und weil er Sandrine in den Augen seiner Tochter nicht demontieren will, korrigiert er dieses Urteil nicht. So enden ihre Unterhaltungen trotz seiner Zurückhaltung immer häufiger im Streit und damit, dass Ryan abends in der Küche allein am Abendbrottisch sitzt und die Natur verflucht: Pubertät ist für alle Beteiligten eine Zumutung, findet er.


Er ignoriert das Lämpchen des Anrufbeantworters und lehnt sich zurück. Dabei hatte doch eigentlich alles so gut angefangen. Für ihn schien ein Weg mit beruflicher Anerkennung und gutem Verdienst vorgezeichnet, die logische Folge aus dem Fleiß vieler Studienjahre und der strengen, auf Disziplin ausgerichteten Erziehung durch seinen Vater. Selbst als junger Mann hatte er sich nie über mangelnde Freizeit beklagt. Er vermisste nichts, wenn er nächtelang lernte, Praktika absolvierte und an den freien Wochenenden jobbte, um sich kleine Extras zu gönnen. Sein Studium hatte er zügig absolviert und mit Bestnoten samt Promotion abgeschlossen.
Unmittelbar daran folgte die Facharztausbildung mit der Fachrichtung »Psychiatrie und Psychotherapie«, und ohne Umwege setzte er seine beachtliche Karriere fort und stieg dank der Protektion seines Vorgesetzten Doktor Andrej Primakow gleich als Oberarzt in einer renommierten Hamburger Psychiatrie ein und erwarb sich schnell den Ruf, ein empathischer und diagnostisch hervorragender Arzt zu sein.
Dennoch hatte er immer darauf verzichtet, seinen prominenten Namen als Türöffner zu nutzen. Er spielt auch sonntags nicht Golf, um Kontakte zu schließen. Er meidet abendliche Events, bleibt lieber zu Hause, um für seine Tochter da zu sein. In der Presse genannt zu werden, weil er sich mit einer Dame der Gesellschaft oder einem in der Fachwelt besonders geschätzten Professor fotografieren lässt, verabscheut er ebenso wie oberflächliches Netzwerken.


Ryan ist der letzte männliche Nachkomme eines alten Mecklenburger Adelsgeschlechts, der Erbe eines ehedem großen Vermögens. Allerdings verbindet ihn mit der Geschichte und Tradition seiner Vorfahren nichts mehr. Sein Vater, Jakob von Streelitz, heiratete nach dem Krieg die Tochter eines reichen Hamburger Kaufmanns. Schnell stieg er zur rechten Hand seines Schwiegervaters auf und erhielt Prokura. Nach dem frühen Tod seiner Frau und des ungeborenen Kindes wurde er mit der Führung der Filiale in New York betraut. Und dort hatte er seine zweite Ehefrau, Ryans Mutter, kennengelernt und geheiratet. Nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes kehrten Jakob und Ava mit Ryan nach Deutschland zurück, und als der frühere Schwiegervater verstarb, trat Jakob dessen Nachfolge an und übernahm die Leitung des florierenden Hamburger Traditionsunternehmens.
Ryan fühlte sich jedoch nicht einen einzigen Moment dem Erbe seiner Vorfahren verpflichtet, und zu keiner Zeit entdeckte er den Kaufmann in sich. Und so verkaufte er die Firma nach dem Tod seines Vaters an einen früheren Mitbewerber in Italien. Nein, er ist kein Kaufmann. Er ist Arzt — und insofern mit sich im Reinen, was seine Familiengeschichte und seine Berufswahl betrifft.
Sein Privatleben allerdings ... das könnte seiner Meinung nach etwas interessanter sein. Jedoch hat es ihm bislang an Fantasie und dem Mut gemangelt, daran etwas zu ändern. So fachlich kompetent und ideenreich er auf seine Patienten reagiert, so wenig kreativ ist er, wenn es um die Gestaltung seines eigenen Lebens geht. Eine träge, träumerische Bequemlichkeit, manchmal sogar das Gefühl von Unausgefülltsein markierten die letzten Jahre, und er hat keine Ahnung, wie er das korrigieren soll. Wirklich allein war er nie, er hat ja seine Tochter, die ihn ganz schön auf Trab hält und die er von Herzen liebt.
Und dann gibt es da eigentlich auch noch eine Frau ... seine Frau — allerdings weit entfernt von Hamburg, von ihm und Melody. Denn Sandrine von Streelitz befindet sich seit Jahren auf einem Selbstfindungstrip in Pune — und dies immer öfter in den Armen junger Anhänger ihrer indischen Community. Ryan hatte zwar in den vergangenen zehn Jahren gelernt, dieses Arrangement zu akzeptieren, aber er weiß natürlich, dass Verdrängung keine wirklich gute Idee ist — und ausgerechnet ihm, dem Psychiater, besonders schlecht zu Gesicht steht. Da muss er nur an seinen Klienten, Studienrat Wedekint, denken ...




Das Echo Deiner Worte

ISBN 978-3-982-36840-5
Ebook, Taschenbuch

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